Wenn das oberste Finanzgericht entscheidet, dass dem Steuerzahler mehr Geld zusteht, weiß der Finanzminister sich zu helfen: Er erklärt das Urteil einfach per Erlass für ungültig. Experten kritisieren diese Möglichkeit heftig.
Bundesfinanzminister, das lehrt die Erfahrung, sind meist edle und großmütige Menschen. So werden Missetäter von ihnen nicht etwa gemaßregelt, sondern erhalten Gelegenheit, ihren Fauxpas auszubügeln.
Hauptnutznießer dieser ministeriellen Güte ist seit vielen Jahren der Bundesfinanzhof (BFH): Treffen die Richter eine Entscheidung, die dem Minister nicht passt, verschickt er gern einen "Nichtanwendungserlass" an die Finanzämter, der dann in der Folge neue Urteile erzwingt. Allein in dieser Wahlperiode, die gerade einmal zur Hälfte vorbei ist, ergingen bereits acht solcher Erlasse, zwei allein in den letzten Wochen.
Den Bürgern könnte das egal sein, ginge es nicht meist um Fälle, in denen der BFH zugunsten des Steuerzahlers - und zu Lasten der Staatskasse - urteilte. Im Mai 2011 etwa entschieden die Richter, dass die Kosten eines Zivilprozesses steuerlich absetzbar sind, wenn die Klage nicht offenkundig aussichtslos war. Vier Tage vor Weihnachten jedoch ging ein Schreiben aus Berlin bei den Finanzbehörden der Länder ein, in dem sie aufgefordert werden, das Urteil "über den entschiedenen Einzelfall hinaus nicht anzuwenden". Damit gehen andere Bürger, die ebenfalls Prozesskosten zahlen mussten, aber nicht klagten, trotz eindeutiger Rechtsprechung weiter leer aus. Die Begründung wird in dem Brief keineswegs verschwiegen: Die Finanzämter hätten keine Möglichkeit, die Erfolgsaussichten einer Klage zu überprüfen, heißt es, außerdem gehe es "um eine erhebliche Anzahl von Fällen". Soll heißen: Es geht vor allem um viel Geld, das dem Finanzminister verloren ginge.
Fachleute kritisieren die Praxis der Nichtanwendungserlasse heftig. "Die Politik tut so, als habe der BFH sich einfach vertan, weshalb man ihm Gelegenheit geben muss, es sich nochmal anders zu überlegen", sagt Markus Deutsch vom Steuerberaterverband. Ähnlich äußert sich Uwe Rauhöft, Geschäftsführer des Neuen Verbands der Lohnsteuerhilfevereine: "Der Bundesfinanzhof entscheidet nur über Rechtsfragen. Seine Entscheidungen auf den Einzelfall zu beschränken und die Anwendung für vergleichbare Fälle auszuschließen, missachtet die Stellung der Judikative", sagt er.
Wie die Koalition noch unliebsame Urteile aushebelt
Doch Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) missachtet nicht nur die Judikative, sondern überdies auch noch den Koalitionsvertrag, wie die Steuerexpertin der Linksfraktion, Barbara Höll, anmerkt. Schließlich hätten Union und FDP darin versprochen, auf Nichtanwendungserlasse weitgehend zu verzichten. Daran, so Finanzstaatssekretär Hartmut Koschyk in einem Brief an Höll, halte man auch fest - von "besonders gelagerten Ausnahmefällen" allerdings abgesehen.
Die Realität sieht anders aus, denn die Koalition hat sogar einen zweiten Weg gefunden, unliebsame Urteile auszuhebeln: Nachdem der BFH etwa entschieden hatte, dass die Kosten der Erstausbildung steuerlich absetzbar sind, beschloss der Bundestag einfach ein anderslautendes Gesetz. Das ist selbstverständlich sein gutes Recht und formal sogar der sauberere Weg. "Es bleibt aber ein schaler Beigeschmack, wenn hart erstrittene Urteile im Endeffekt nichts wert sind", sagt Verbandssprecher Deutsch.
Auffallend ist, dass die SPD bisher keinerlei Versuche unternommen hat, politisches Kapital aus Schäubles Verhalten zu schlagen. Der Grund dafür ist einfach: In der vergangenen Wahlperiode wurden noch mehr Nichtanwendungserlasse verschickt als derzeit, genau 27. Name des verantwortlichen Ministers damals: Peer Steinbrück.