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Etwa vier Prozent der Bundesbürger geraten jedes
Jahr vor ein Gericht. Die wenigsten wegen einer echten
Straftat, die meisten wegen Vergehen im Straßenverkehr
oder wegen »Gartenzaun-Klagen« unter Nachbarn.
Die Wahrscheinlichkeit, in ein Strafverfahren verwickelt
zu werden, ist etwa so groß wie die, nach einem
Todesfall in der Familie ein Bestattungsinstitut betreten
zu müssen. Wie es vor einem Gericht zugeht, wissen
die Bundesbürger nur aus Serien wie »Richter
Alexander Hold« oder »Richterin Barbara Salesch«.
Das ist so, als würde man sich über das Leben
im Dschungel in der Zoo-Abteilung eines Warenhauses kundig
machen.
Deswegen ist es den meisten Bürgern auch nicht
bewusst, dass die Justiz eine Welt für sich ist,
ein geschlossenes, hierarchisch strukturiertes Biotop,
das sich so gut wie jeder gesellschaftlichen Kontrolle
entzieht. Verglichen mit Richtern und Staatsanwälten
führen sogar Ärzte ein Leben wie in einem
Glashaus, die Angehörigen anderer Berufsstände
sowieso.
Die Justiz kontrolliert sich selbst, das ist ein wichtiges
Element ihrer Unabhängigkeit. Die Instrumente der
Selbstkontrolle heißen Berufung und Revision, das
System basiert auf der Annahme, dass Landrichter mit
mehr Sachverstand gesegnet sind als Amtsrichter, dass
sie Angehörigen der Oberlandesgerichte die Fehler
der Landrichter erkennen und korrigieren können
und dass die Richter an den Bundesgerichten theoretisch
auch nur Menschen, praktisch aber unfehlbar sind.
Freilich: Schon der Alte Fritz, Preußens König
Friedrich II., hat 1779 über das Gehabe mancher
Richter räsoniert: »Vor Schelme, die den Mantel
der Justiz gebrauchen, um ihre üble Paßiones
auszuführen, vor dieser kann sich kein Mensch hüten,
die sind ärger wie die gröbsten Spitzbuben,
die in der Welt sind.«
Würde der Alte Fritz einen solchen Satz heute in
einem Gerichtssaal der Bundesrepublik von sich geben,
hätte er gleich ein Verfahren am Hals, wegen Beleidigung, übler
Nachrede, Verleumdung etc. Denn mag die Justiz in vielen
Fällen behäbig, langsam und unwillig sein,
wenn es um sie selbst geht, agiert und reagiert sie schnell,
resolut und strafwütig. Der Münchener Strafverteidiger
Rolf Bossi wurde vom Landgericht Augsburg wegen übler
Nachrede zu einer Geldstrafe von 12 000,– Euro
verurteilt. Er hatte im Laufe einer Verhandlung vor einer
anderen Kammer des Landgerichts den Richtern ȟble
Justizkumpanei« vorgeworfen, weil sie einen Befangenheitsantrag
gegen einen Gutachter abgelehnt hatten. Das mag grob,
gemein und auch unbegründet gewesen sein, aber Bossi
handelte in Wahrnehmung der Interessen seines Mandanten.
Und was er den Richtern an den Kopf warf, war ein zärtliches
Kompliment verglichen mit dem, was Richter und Staatsanwälte
Angeklagten und ihren Verteidigern mit auf den Weg geben.
Ein Düsseldorfer Rechtsanwalt wurde zu einer hohen
Geldstrafe verurteilt, weil er von einem »Saustall
von Justiz« gesprochen hatte, der mit »eisernem
Besen« ausgekehrt werden müsse.
Der Vizepräsident des Landgerichts Frankfurt/Oder
hat Strafanzeige wegen Beleidigung und übler Nachrede
gegen zwei CDU-Politiker gestellt, nachdem sie die Urteile
eines Bernauer Amtsrichters »in unverantwortlicher
Weise kritisiert« hatten.
Solche Fälle werden nur selten bekannt. Und wenn,
dann stehen sie meistens auf der Seite »Vermischtes«,
wo sie wenig Aufsehen erregen.
Die Frage, warum viele Richter so dünnhäutig
und im Austeilen viel begabter als im Einstecken sind,
wird nur selten gestellt, denn wer es tut, riskiert damit
ein Verfahren wegen Beleidigung bzw. übler Nachrede.
Deswegen rät auch jeder Verteidiger seinem Mandanten,
die Richter nicht zu provozieren, denn er verlässt
sich nicht nur auf den Sachverstand der Richter, sondern
auch auf deren Wohlwollen, das der Angeklagte durch schlechtes
Benehmen nicht verspielen sollte.
In einem Verfahren wegen Beleidigung, bei dem ich den
Angeklagten gab, merkte der Staatsanwalt, der die Anklage
vertrat, dass er sich vergaloppiert hatte und plädierte
auf Freispruch. Er konnte sich freilich die Bemerkung
nicht verkneifen, ich sollte doch mal darüber nachdenken,
ob ich mit meinem Verhalten »den Juden einen Gefallen
erweisen« würde. Ich kenne keinen einzigen
Fall, in dem ein Staatsanwalt die Religionszugehörigkeit
eines Angeklagten thematisiert und gesagt hätte,
der Angeklagte solle es sich überlegen, ob er mit
seinem Verhalten den Katholiken/Protestanten/Moslems
oder Hindus einen Gefallen getan hätte. Warum dann
im Falle eines Juden? Mir lag schon ein Wort auf der
Zunge, das mit »Anti« anfängt und mit »Semit« aufhört.
Ich verschluckte es. Es war besser so. |