Einführung
Obwohl
Erich Schwinge in seinem Buch "Ehrenschutz heute (1987)",
im Gegensatz zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
(was er im übrigen auch nicht erwähnte), für
verstärkten Schutz für Politiker argumentierte,
können wir ihm in Sachen 'Bagatellbeleidigung' Recht
geben. Er schrieb:
"Die Übergröße Zahl
dieser Beleidigungsprozesse (Redaktion: aus dem Jahre
1927) hatte es mit Nichtigkeiten zu tun - Schimpfreden
und Tratsch und Klatsch, deren forensische Behandlung
eigentlich unter der Würde der Justiz lag."
Eugen
Schiffer machte in seinem Buch "Die deutsche Justiz. Grundzüge
einer durchgreifender Reform (1928)" seinerzeit auf das
englische Recht aufmerksam, wo bloß wörtliche Ehrenkränkungen
im Grundsatz nicht verfolgt werden. Er schrieb weiter:
"Dort sind Beleidigungsklagen, insbesondere
wegen bloßer Schimpfworte, ausgeschlossen oder
doch nur eine Seltenheit. Trotzdem herrscht auch dort
nicht Mord und Totschlag unter den Menschen, wie man
bei uns für den Fall prophezeit, daß nicht
die Gerichte zwischen sie treten."
Was
ist aus diesen mahnenden Worten gemacht worden? Laut Reichskriminalstatistik
beschäftigten sich die Gerichte Deutschlands im Jahre
1927 mit 50.000 Fällen von "Beleidigung". Im
Jahre 2005 waren es beinahe 180.000, mit steigender Tendenz.
Die Entwicklung (einschl. des Jahres 1927) ist den untenstehenden
Grafiken zu entnehmen:
Wie
man sieht: Die Gerichte sowie deutsche Staatsjuristen, statt
das Geschäft zeitgemäß abzubauen, haben auf
das Fundament dieses 'infantilen Ehrenkults' (etwa aus dem "Zeitalter
des Monokels" 1927) eine florierende "Beleidigungsindustrie" aufgebaut.
Der Staat Großbritannien hat, gemäß seiner
1927 bereits begonnener Entwicklung, seine Gesetzgebung wegen
Beleidigung drastisch abgebaut, bis nur die schriftliche Beleidigung
("Libel") unter ganz bestimmten Umständen übrig
blieb. Die nachstehende tabellarische Darstellung - 1 Fall
(GB) mit 180.000 (DE) kann man nicht sinnvoll durch eine Grafik
veranschaulichen - macht dies klar.
The "Criminal
Libel" cases per Year in UK |
1997 |
1998 |
1999 |
2000 |
2001 |
2002 |
2003 |
2004 |
2005 |
5 |
3 |
4 |
2 |
3 |
2 |
0 |
0 |
1 |
Was
die Beleidigungsdelikte im Gesamtumfang der Fälle zum
Strafrecht ausmacht, sind erstaunliche 20% im
Jahre 2005. Daran kann man wahrlich gut erkennen, wie sehr
deutsche Staatsjuristen an ihren "Beleidigungsdelikten
hängen.
Die Stellungnahme des KSZE (Kommittee für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa) zu den Strafgesetzen einiger Staaten
gegen 'Beleidigung' von 24. Mai 2002 lautete übrigens:
"Strafgesetze gegen Beleidigung
und Diffamierung werden häufig als nötige Abwehr
gegen angeblichen Missbrauch der Meinungsfreiheit gerechtfertigt.
Sie sind aber mit OSCE Normen nicht konform und deren
Anwendung bildet einen Verstoß gegen das
Recht auf freie Meinungsäusserung.".
Deutschland
fällt nicht nur wegen der Pflege solcher Gesetzgebung
auf, sondern durch den Exzess, den es auf der Grundlage solcher
Paragraphen treibt. Der 'infantile Ehrenkult', der dahintersteckt,
ist symptomatisch für zurück gbliebene unreife Staatsdiener.
Die Bedeutung für den Bürger
Es
stellt sich die Frage: Warum sollte man eine schon im Jahre
1927 überholte Gesetzgebung behalten, deren Anwendung
sogar noch steigern ? Die Antwort ist in erster Linie in der
Aussage von Rechtsanwalt "X" vom 11.01.2001 enthalten:
"Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht
(BVerfG) ist hier praktisch alles erlaubt ! Man könnte
sogar kritisch sagen, dass im Interesse der Meinungsfreiheit,
künstlerische Äußerung und dergl. werden
Geschmack und Anstand geopfert. Doch dies muss sein,
um eine Diktatur oder Zensur zu vermeiden."
"Nach der Rechtsprechung der untergeordneten
Gerichte, vom Amts-, Land- und Oberlandesgerichte bis
zum Bundesgerichtshof (BGH), wird dem Bürger auf
die Finger geklopft, wenn er eine Meinung drastisch äußert.
Diese Gerichte kümmern sich praktisch überhaupt
nicht um die Rechtsprechung des BVerfG."
"Diese Gerichte wissen, dass es
dem kleinen Bürger fast verwehrt ist, das BVerfG
anzurufen. Denn bis das BVerfG seinen Antrag behandelt,
sind regelmäßig mehr als 5 Jahre vergangen."
Dies
kann man ja nur so verstehen, dass das Recht von untergeordneten
Gerichten in Deutschland regelmäßig bewusst gebeugt
wird. Für die Rechtsbeugung gilt in Deutschland offenbar,
was für alle anderen Straftaten nicht möglich ist:
Es gibt das 'pefekte Verbrechen'.
Die
Gesetzgebung wegen des Tatbestands der "Beleidigung" ist
für Behörden sowie Industrie sehr nützlich,
um unbequeme Bürger in die Falle zu locken: Sobald er
auf eine Provokation mit einer "Beleidigung" reagiert,
hat man ihn - für alles andere sorgen die untergeordneten
Gerichte - auch für die Rechtsbeugung. Der Bürger
wird sich im allgemeinen nicht wehren können.
Zwei spektakuläre Fälle
Einer
der beiden Elternteile von Helmut Palmer, der 2004 starb, war
Jude. Palmer musste wegen dieser seiner 'Herkunft' schon in
der frühen Kindheit viel Spott seiner Zeitgenossen ertragen.
Vielleicht deswegen sah er in den Vorgehensweise der Behörden
die weiterlebende Nazi-Mentalität. Mindestens in Sachen "Beleidigungen" muss
man ihm Recht geben. Die folgende Grafik zeigt Helmut Palmers
Verurteilungen wegen 'Beleidigung von Amtsträgern'.
Es ist vom Interesse, dass Herr Palmer dreimal ins
Gefängnis gehen musste und §185a des Strafgesetzbuchs
gegen ihn verwendet wurde. Dies muss man einen 'Justizskandal'
nennen.
Beim
Fall Rechtsanwalt Claus Plantiko ging - wenn man der Presse
Glauben schenken darf - um die "Richterbeleidigung",
ein Delikt, dass es im deutschen Strafrecht eigentlich gar
nicht gibt. Selbst in Deutschland genießen genießen
nämlich Richter keinen besonderen zusätzlichen Schutz
vor "Beleidigung". Wie in anderen Ländern auch
ist "ungebührliches Verhalten" vor Gericht
strafbar. Weil Plantiko die "Gewaltentrennung" als
Lösung gegen 'richterlichen Filz' in Deutschland propagiert
und jede öffentliche Gerichtsverhandlung nutzt, die Misstände
im deutschen Justizsystem anzuprangern, wird er von Behörden
und Justiz in unerträglicher Weise dransaliert. "Ungebührliches
Verhalten" vor Gericht würde als Mittel der Disziplinierung
nicht ausreichen und wäre gegen einen Idealisten, der
lediglich andere Ideen zu vertreten hat, eine stumpfe Waffe.
Daher muss man einen 'Straftatbestand' schaffen.
Plantiko
ist, wie viele andere auch, der Meinung, dass das gegenwärtige
System für die Richterwahl nach Parteiquoten grundsätzlich
falsch ist. Zur Entpolitisierung der Richter will er die Richterwahl
auf Zeit durchs Volk einführen. Bei der Darstellung der
Misstände vor Gericht benutzt er, zugegeben, teilweise
sehr drastische Vergleiche. Drastisch heißt aber nicht
'unwahr' oder "beleidigend", wie die Richter seine
Worte auslegen wollen.
Zum
infantilen Ehrenkult gehört u. a. das Prinzip des empörten
Würdenträgers. Es ist in Deutschland nicht nötig,
sich zu rechtfertigen - falls man in die richtige Kategorie
hineinfällt; dann reicht die alleinige Empörung für
die untergeordneten Gerichte völlig aus. Falls man Glück
hat, kann man den "mißlibigen Kerl" einschüchtern,
damit er sich nicht an die höheren Gerichte wendet. Das
Mindeste, was man tun kann, ist abwarten - in den etwa 5 Jahren,
die ein Betroffener braucht, ehe sein Fall vielleicht an das
BVerfG kommt, kann eine Menge passieren. Der Betroffene kann
z. B. aufgeben, sich nochmals strafbar machen oder psychiatrisiert
werden. Doch man versucht gegenwärtig, Plantiko zum Psychiater
zu schleppen, um ihm auf diese Weise seine Zulassung als Rechtsanwalt
nehmen zu können.
Die
Strafen wegen "Beleidigung" im Fall Claus Plantiko
sind der obigen Grafik zu entnehmen. Die letzte Strafe am 08.12.2006
betrug 300 Tagesätze - für eine eingetragene Vorstrafe
reichen 90 Tagesätze.
Nehmen
wir den letzten Prozess vor dem Landgericht Bonn am 09.03.07.
Er war, wie häufig in Deutschland, eine äußerst
primitive Angelegenheit. Nach der mittlerweile zur Tradition
dieser Schau gehörenden 'Ablegung der Anwaltsrobe', wollte
Plantiko Anträge stellen. Richter Schwill meinte schroff,
er habe das Wort und wies Plantiko, sich hinzusetzen. Es wurden
mehrere "Beleidigungen" aus verschiedenen Verfahren
vorgehalten. In seinem Vorhalt führte Richter Schwill
aus, RA Plantiko greife die deutsche Rechtsstruktur
an. Dass diese in Deutschland bestens sei, beweise bereits
die Vielzahl der Akten hier auf dem Tisch. In Deutschland würden
dem Rechtsuchenden mehr Möglichkeiten, Gesetze und Rechtswege,
als in sämtlichen anderen Ländern gegeben. (Redaktion:
Man muss hier nur die obigen Punkte lesen, um diesen Spruch
widerlegen zu können. Der Autor als Ausländer hat
erheblich bessere Qualität der Justiz in anderen Ländern
erlebt.)
Zur
Erörterung in Sachen Richter Fühling (Gegenstand
eines früheren Prozesses), führte die Verteidigung
aus, Richter Fühling habe bei dem von RA Plantiko begonnenen
Satz "Die Parallele zu Stalins und Hitlers
Ausnahmegerichtspersonal .... ", Plantiko
das Wort abgeschnitten und ihm dann seine Unterlagen weggenommen,
um darauf selbst zu verlesen und zu protokollieren. RA Plantiko
sagte, diesen Sachverhalt könne der hier anwesende Zeuge
Vogt bestätigen. "Das Gericht entscheidet, wer als
Zeuge zugelassen wird.", meinte Richter Schwill. (Redaktion:
Im Prinzip hatte Schwill Recht, aber erst nach einer Prüfung
des Zeugen, was nie stattfand).
Nun,
Plantiko witterte, dass Richter Schwill offenbar die Absicht
verfolgte, ihn ins Gefängnis zu bringen (was Schwill im Übrigen
später bestätigte) und zog in der Pause, im Einvernehmen
mit der Staatsanwaltschaft, seine Berufung zurück.
Als einer der etwa 30 Zuhörer die Bemerkung "Rechtsbeugung" fallen
ließ, wurde Richter Schwill laut und böse, beschimpfte
alle als "Vollidioten", rief sechs bewaffnete Wachmänner,
ließ den Saal räumen und vernahm den vermeintlichen
Beleidiger. Aus der Vernehmung wurde allerdings nichts. (Diese
Schilderung basiert auf zwei Zeugenaussagen, die übereinstimmen.)
Stellungnahme zum Prozess am 09.03.07
Man
muss die richterliche Gelassenheit und Eloquenz, die zu einer
Gerichtsverhandlung in anderen Ländern gehört, in
Deutschland schwer vermissen. Ein Richter, wie Richter Schwill,
der eine Verhandlung so führt, wie hier verlaufen ist,
gehört sicherlich nicht auf der Richterbank. Dass er sich
zusätzlich zum fehlenden Gerichtsaal-Stil weigert, einen
wichtigen Zeugen anzuhören, ist eine Aktion, die in einer
ganz anderen Kategorie als Stilmangel hineinfällt. Kaum
zu glauben, dass dieser Mann, nach einem Prozess wegen "Beleidigung",
selber das Publikum bösartig als "Vollidioten" beschimpft.
(Einige Mitglieder des Publikums haben daher Strafantrag gegen
ihn erstellt).
Abschließende Bemerkungen
Wie
oben aufgeführt, gehen 20% aller behandelten Straftaten
auf das Konto "Beleidigung" (etwa 180.000). Es ist
ein Rätsel, warum die deutsche Justiz so an einer Gesetzgebung
hängt, die schon im Jahre 1927 für eine glatte Zeitverschwendung
betrachtet wurde. Heute ist man sogar bereit, den internationalen
Hohn und Spott des KSZE zu erdulden, um diese "unverzichtbare" Tradition
weiter zu pflegen.
In
Anbetracht der unmissverständlichen Rechtsprechung des
BVerfG, darf man annehmen, dass die meisten Verurteilungen
(60-70%) durch Rechtsbeugung oder Rechtsblindheit der Richter
ergehen. Man kann sich dies erlauben, denn Rechtsbeugung ist
in Deutschland schließlich das 'perfekte Verbrechen'.
Hinzu kommen die Wohnungsdurchsuchungen und DNA-Tests (etwa
1400, laut DER SPIEGEL), die zur Verfolgung von "Beleidigungen" durchgeführt
werden. Es kann z. B. wegen einem in anderen (weniger infantilen)
Ländern bedeutungslosen Schimpfwortes wie "Bulle", "Arschloch" oder "durchgeknallter
Generalstaatsanwalt" zu einem Eintrag in das Strafregister
kommen. Im Ausland weiß man nicht, wie solche Einträge
zustandekommen: Es ist schlichtweg eine Straftat, weshalb es
in dem heutigen Klima leicht zu Schwierigkeiten bei den Einwanderungsbehörden,
z. B. am Flughafen, kommen kann.
Es
ist klar, dass wir mehr dafür tun müssen, die Zustände
in der deutschen Justiz im Ausland bekannt zu machen. Dies
wird demnächst in einer ersten Phase erfolgen. Zweitens
brauchen wir ein eigenes NGO-Strafregister, das solche Urteile
wieder ins richtige Licht rückt, z. B. für potentielle
Arbeitgeber. Hier stehen wir vor einem gigantischen Problem
verheerenden Ausmaßes, denn erwartungsgemäß werden
mehr als 100.000 Einträge allein für "Beleidigung" nötig
sein. Ob eine Pauschalisierung für bestimmte Straftaten
möglich und wie dies zu formulieren wŠre, wird
uns noch lange beschäftigen. Die dritte Maßnahme
bildet die Anwendung von Qualitätsmanagement in der Justiz.
Dies läuft.
20.03.2007 |