Einer der Grundpfeiler der hypokratischen Medizin
lautet: primum non nocere – zuerst keinen Schaden anrichten.
Wenn es nach dem Psychiater Allan Frances geht, wird dieser
ethische Grundsatz zurzeit von seinen Kollegen untergraben.
Eine Task Force von Wissenschaftlern arbeitet derzeit an einer
Neuauflage des Klassifikationssystems für psychische Störungen,
dem DSM. Hier steht geschrieben, wo Normalität aufhört
und psychische Störungen anfangen, was noch Trauer ist
und was schon eine Depression und wie temperamentvoll ein Kind
sein darf.
Seit die Amerikanisch-Psychiatrische Gesellschaft (APA) vor fast
einem Jahr erste Einblicke in die geplante fünfte Ausgabe
des Handbuchs gewährte, tobt ein heftiger Streit. Denn Wissenschaftler,
Mediziner und selbst Autoren der neuen Ausgabe fürchten,
mit der Veröffentlichung Millionen neue Patienten zu schaffen.
Wurden in der ersten Ausgabe 1952 noch ein paar Dutzend Krankheiten
beschrieben, sind es heute 357.
Mit DSM-V wird es die nächste Revolution geben. "Wir
kommen an den Punkt, wo es kaum noch möglich ist, ohne eine
geistige Störung durchs Leben zu kommen - oder zwei oder
eine Handvoll", sagt Allan Frances. Der emeritierte Professor
von der Duke University in North Carolina war Schirmherr der
Vorgängerausgabe DSM-IV. Er ist einer der größten
Kritiker von DSM-V.
Für Aufsehen sorgt etwa die Neuaufnahme eines abgeschwächten
Psychose-Syndroms, so etwas wie die Vorstufe einer Psychose.
Die Idee dahinter ist: Macht man die Kinder ausfindig, die später
eine Psychose entwickeln werden, lässt sich eine ernsthafte
Erkrankung vielleicht verhindern.
"Abgemilderte Krankheitsformen" einbezogen
Für Wolfgang Gaebel, Direktor der Klinik und Poliklinik
für Psychiatrie der Universität Düsseldorf und
einer der wenigen Europäer im DSM-V-Experten-Komitee,
ein echter Fortschritt, weil "nun auch abgemilderte Krankheitsformen
einen diagnostischen Wert bekommen". Bislang sitzen diese
Patienten fest in einem Raum zwischen Normalität und Krankheit. "Hier
wird die neue DSM-Klassifikation Klarheit bringen", so
Gaebel.
Doch zu welchem Preis? Selbst unter Hochrisikopatienten wird
wahrscheinlich nur ein Bruchteil tatsächlich einmal eine
Psychose entwickeln. Die Rate der falsch-positiven Befunde
dürfte erheblich sein. "Auf jeden jungen Patienten,
der richtig diagnostiziert wird, kommen zwischen drei und neun
Menschen, die fälschlicherweise zu Kranken gemacht werden",
schätzt Allan Frances.
Der Psychologe weiß aus eigener Erfahrung, was kleine
Veränderungen in der Klassifikation bewirken können.
Als Frances und seine Kollegen sich entschieden, die Kriterien
für die Aufmerksamkeitsstörung ADHS auszuweiten,
schufen sie eine Epidemie. "Wissenschaftler wollen, dass
jeder eine Behandlung bekommt", so Frances. "Sie
sorgen sich aber nicht um die, die fälschlicherweise als
krank diagnostiziert werden und Behandlungen bekommen, die
sie nicht brauchen."
Falschdiagnosen bei ADHS
So stieg die Zahl der Kinder mit der Zappelphilipp-Diagnose
in den Jahren darauf schlagartig an – und zwar weit über
die zuvor berechneten Fallzahlen. Erst kürzlich kamen
zwei Studien zu dem Schluss, dass in den USA etwa eine Million
Kinder fälschlicherweise mit ADHS diagnostiziert wurden.
Bei ihrer Einschulung waren sie jünger und damit auch
lebhafter als ihre Klassenkameraden.
Es stellt sich zunehmend die Frage: Wie emotional darf man
sein, bevor man aus dem engmaschigen Netz der Normalität
fällt? Stirbt etwa der Mann, das eigene Kind oder auch
der beste Freund, kann förmlich der Boden unter den Füßen
wegbrechen. Vielleicht schläft man schlecht oder mag nicht
essen. All das sind natürliche Reaktionen auf einen schmerzhaften
Verlust.
Aus diesem Grund schließt die aktuelle Ausgabe des DSM
diese Menschen von der Diagnose einer Depression aus, sofern
ihre Symptome nicht länger als zwei Monate andauern. Diese
Hürde soll nun wegfallen. "Zwei Wochen der Traurigkeit,
Schlafstörungen, Niedergeschlagenheit und Appetitlosigkeit
reichen dann aus für den Stempel einer Depression, und
zwar unabhängig von der persönlichen Situation",
so Frances.
Depression – oder ganz "normale" Sorgen?
Auch mit anderen Neuerungen laufen die Wissenschaftler Gefahr,
die Grenzen zur Krankheit weiter aufzuweichen. Die Diagnose "Minor
Neurocognitive Disorder" könnte Menschen einschließen,
die im Alter ganz normale Gedächtnisprobleme zeigen, und
die "Mixed Anxiety Depression" ist laut Frances
nur schwer von den emotionalen Tiefen und Sorgen zu unterscheiden,
die jeder einmal erlebt.
Es gibt Menschen, die zerbrechen an sich selbst, an schrecklichen
Erlebnissen, werden von einem Wahn heimgesucht oder einer irrationalen
Angst. Psychische Leiden sind real und Betroffene müssen
die Chance auf Hilfe bekommen. Doch Menschen in einer Lebenskrise,
Trauernde oder Impulsive, müssen davor bewahrt werden,
als krank zu gelten. Zudem gibt es für den Großteil
dieser Störungen und Syndrome keine eigene Therapie.
Die Betroffenen würden wahrscheinlich schon bald Medikamente
bekommen, die kaum an ihnen getestet wurden und deren Nebenwirkungen
ihnen sogar schaden können. Für die Pharmaindustrie
ein gefundenes Fressen, gibt es doch keinen besseren Weg, Medikamente
zu verkaufen, als mit einer neuen Diagnose.
Psychopharmaka wie aus dem Schrotgewehr
Psychopharmaka werden in vielen Fällen wie im Schrotschussverfahren
eingesetzt – "vergleichbar mit den Anfängen
der Chemotherapie", sagt der in der Schweiz lebende Psychiater
und Wissenschaftspublizist Asmus Finzen. "Wir wissen
noch zu wenig über die Ursachen von psychischen Störungen,
um individuelle Medikamente entwickeln zu können."
So gibt es bislang nur wenige Wirkstoffgruppen wie Antidepressiva,
Neuroleptika oder Tranquillanzien, die jedoch bei vielen unterschiedlichen
psychischen Problemen eingesetzt werden. Dass sie den Patienten
helfen, sei in einigen Fällen jedoch nur ein Wunsch, so
Finzen.
Aus diesem Grund werden nun Feldstudien die Zuverlässigkeit,
Anwendbarkeit und klinischer Nutzen der Neuerungen des Diagnosekatalogs überprüfen.
So soll verhindert werden, "dass falsch positive Diagnosen
entstehen", so Gaebel.
Jano Costello verließ das DSM-Team
Jane Costello war das zu wenig. Die Psychologin verließ vor
zwei Jahren das DSM-Team für Störungen im Kinder-
und Jugendalter. In einem mit ihrer Zustimmung veröffentlichten
Brief heißt es unter anderem: Es wurden Entscheidungen
getroffen, "mit kaum einer wissenschaftlichen Grundlage
oder die Unterstützung durch Untersuchungen und Studien".
Spätestens 2013 soll der Bestseller veröffentlicht
werden. Und seine Bedeutung ist kaum zu unterschätzen.
In der Forschung gilt fast ausschließlich das DSM-System.
In vielen Ländern ist das Handbuch so machtvoll, dass
es als Grundlage von Sorgerechtsentscheidungen dient oder einen
Angeklagten für schuldunfähig zu erklären.
In deutschen Arzt-Praxen hat zwar die ICD-Klassifikation der
Weltgesundheitsorganisation Vorrang, doch auch für sie
ist eine Neuauflage geplant, die sich an DSM-V orientieren
wird. So dauert es nicht lange, bis die neuen Diagnosen in
den Behandlungsräumen von Psychiatern auf der ganzen Welt
angekommen sind. |