Rechtsstaat
Stasi-Spitzel fordern Persönlichkeitsrechte
ein
Von Hubertus Knabe 10. November 2008, 18:36
Uhr
Auch wenn es paradox klingt – über
die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 hat sich
niemand so gefreut wie die ehemaligen Stasi-Mitarbeiter.
Mit diesem Tag stand ihnen das ganze Instrumentarium
des Rechtsstaates zur Verfügung, das die Rechte
des Einzelnen in Deutschland schützt – egal,
was er vorher getan hat.
Während die Stasi-Mitarbeiter nach der
Wende anfangs noch zurückhaltend von den
Möglichkeiten des deutschen Rechtsstaates
Gebrauch machten – damals liefen noch zahlreiche
Ermittlungsverfahren gegen sie –, wagen
sie sich inzwischen immer dreister aus der Deckung.
Nachdem die Verfahren alle eingestellt sind,
fordern sie inzwischen selbstbewusst den Schutz
ihrer Persönlichkeitsrechte ein. Unter Berufung
auf Grundgesetz, Unschuldsvermutung und Datenschutz
verlangen sie, dass man ihre Namen nicht mehr öffentlich
nennen dürfe – wegen der „Prangerwirkung“.
Leider finden sich immer mehr Richter, die ihnen
recht geben. Die Folgen haben als Erstes die
Medien zu tragen: Eine Berichterstattung über
Stasi-Verstrickungen wird in Deutschland immer
schwieriger, juristisch riskanter und vor allem
teurer – weil jedes Verfahren mehrere Tausend
Euro kostet.
Wer kein Risiko eingehen will, flüchtet
sich in eine vage, anonyme Verdachtsberichterstattung.
Aus dem konkreten Spitzeldienst für eine
Diktatur wird so der allgemeine Hinweis auf „mögliche
Stasi-Kontakte“ einer Person. Noch stärker
sind die Verlage betroffen: Da ein Buch nicht
nur einen Tag lang verkauft wird, muss es, wenn
die Stasi-Täter vor Gericht Erfolg haben,
aus Tausenden Buchhandlungen zurückgeholt
und anschließen geschwärzt oder eingestampft
werden. Jeder Verlag überlegt es sich heute
dreimal, ob er die Namen von Stasi-Mitarbeitern
nennen soll, weil das wirtschaftliche Risiko
in keinem Verhältnis zum verlegerischen
Nutzen steht.
Die Folge ist eine schleichende Selbstzensur,
die aus konkreten historischen Vorgängen
allgemeine, abstrakte Abläufe macht – für
die Leser langweilig und kaum nachvollziehbar.
Ein Buch – um nur ein Beispiel zu nennen – über
die Ungeheuerlichkeit, dass in der DDR Hunderte Ärzte
der Stasi zugearbeitet haben, wird zu einer Aneinanderreihung
von nichtssagenden Decknamen von „Alfons“ bis „Zacharias“.
Eine Aufarbeitung des massenhaften Patientenverrats
unter den teilweise noch heute praktizierenden Ärzten
ist nicht möglich.
Noch stärker betroffen sind die Wissenschaftler,
die normalerweise keine Rechtsabteilung zur Seite
haben, aber den Verlag in der Regel von allen
Rechtsansprüchen Dritter freistellen müssen.
Wer nicht Gefahr laufen will, in zahllose Rechtsstreitigkeiten
mit ungewissem Ausgang verwickelt zu werden,
verzichtet besser von vornherein auf das Nennen
von Namen.
Und während er sonst gehalten ist, mit
wissenschaftlicher Genauigkeit Tatsachen festzustellen,
sollte er tunlichst nur noch einen allgemeinen
Verdacht oder eine subjektive Meinung äußern – nur
dann droht kein Prozess. Überhaupt ist jeder
Stasi-Forscher gut beraten, wenn er zuvor ein
detailliertes – und teures – Rechtsgutachten
einholt, bevor er sein Manuskript veröffentlicht.
Am meisten aber sind die Opfer von der Rechtsprechung
bedroht.
Wer heute öffentlich darüber berichtet,
wer ihn an die Stasi verraten hat, muss damit
rechnen, von diesem noch ein zweites Mal drangsaliert
zu werden – durch eine Klage auf Unterlassung
und gegebenenfalls sogar Schadenersatz. Öffentlichkeit
herzustellen ist ohnehin das Einzige, was den
Verfolgten geblieben ist, wenn sie merken, dass
sie der örtliche Immobilienmakler oder Fußballklubpräsident
in seinem ersten Leben ins Gefängnis gebracht
hat – Stasi-Spitzel sind in Deutschland
allesamt straffrei geblieben. Wenn er nun einen
Leserbrief dazu schreibt oder auch nur an den
Vorstand des Kickervereins schreibt, kann ihm
das leicht vom Gericht verboten werden. Die Folge:
Die alten Wunden werden noch schmerzhafter, eine
individuelle Verarbeitung ist nicht möglich.
Auch Ausstellungsmacher, Opferverbände oder
Schulklassen können – wie jüngst
in Reichenbach – einen Maulkorb verhängt
bekommen, wenn sie sich in Deutschland öffentlich
mit Stasi-Tätern beschäftigen wollen. „Die
Freiheit stirbt zentimeterweise“ lautete
ein Slogan früherer Bürgerrechtsbewegungen.
Genau das findet seit mehreren Jahren auf dem
Gebiet der Stasi-Aufarbeitung statt. Weil manche
Richter, vor allem in Hamburg und Berlin, aus
Datenschutz Täterschutz machen, wird eine
offene Auseinandersetzung mit Schuld und Verbrechen
in der SED-Diktatur (und merkwürdigerweise
nur in dieser) immer mehr erschwert. Bei Stasi-Themen
gilt das Grundgesetz schon lange nicht mehr – denn
da steht drin: Eine Zensur findet nicht statt.
Der Autor ist Historiker und Leiter der
Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen